Achtsamkeit im Schulleben
Der Lehrer ist mehr als die Summe seiner Rollen – er ist Mensch. Und er ist Teil eines vielfältigen Beziehungsgeflechts. Seine Persönlichkeit, seine Offenheit, seine Lern- und Beziehungsfähigkeit machen ihn zum kompetenten Begleiter und Förderer des Kindes. Peter E. Schipek von den Sinn-Stiftung hat mit Rita E. Kaufmann ein Interview über ihr Buch Selbstbestimmung und Beziehungslernen
geführt, dass wir in Auszügen veröffentlichen. Darin beschreibt sie, wie Achtsamkeit Lehrer belastbarer macht und sie dazu befähigt, ihre Ressourcen sinnvoll zu nutzen.
Peter Schipek:
Sie thematisieren in Ihrem Buch „Selbstbestimmung und Beziehungslernen“ das Spannungsfeld, in dem jeder Einzelne von uns vom Anfang seines Lebens an steht, und zwar in seinen verschiedenartigen Beziehungen zu anderen Menschen. Demnach ist jeder von uns gefordert, die eigenen Wünsche nach Selbstbestimmung und Miteinander immer wieder von neuem vereinbar zu machen, sowohl im Schulleben als auch im Leben. Wie kann das gelingen?
Rita E. Kaufmann:
Tatsächlich scheint es ein tief in uns verwurzeltes Gefühl zu geben, das uns danach streben lässt, sowohl mit anderen Menschen verbunden zu sein als auch selbstbestimmt zu handeln. Wenn es uns gelingt, beide Wünsche miteinander vereinbar zu machen, dann empfinden wir das als Glück. Dazu bedarf es der Achtsamkeit, die durch vielfache Übung zu dem wird, was wir Haltung nennen. Wer als Lehrer diese Haltung ausgebildet hat, schafft es eher, immer wieder von neuem ins Gleichgewicht zu kommen. Ihm kann es gelingen, bei seinen Schülern ein Wir-Gefühl zu erzeugen und ihnen gleichermaßen zu vermitteln, dass es ein lohnendes Ziel ist, selbstbestimmt und stark zu werden. Der Lehrer, der über diese Qualitäten verfügt, wird meist als Persönlichkeit wahrgenommen.
Peter Schipek:
Und die Achtsamkeit als nicht wertende Haltung, die uns dazu verhelfen kann, Geschehnisse aus einer gewissen Distanz zu betrachten, ist ein Gegenprogramm, um zu lernen, gelassener zu reagieren?
Rita E. Kaufmann:
Ja, genau. Da treffen Sie den Punkt. Allerdings gibt es zwei Arten von Achtsamkeit. Achtsam zu sein heißt zunächst einmal, bewusst, wach, im gegenwärtigen Augenblick mit allen Sinnen präsent zu sein. Das Ziel von Achtsamkeitsübungen ist es dann, unsere Automatismen häufiger wahrzunehmen und nach und nach zu überwinden. Es braucht Zeit, um eine achtsame Haltung auszubilden. Dabei geht es um Stressprophylaxe. Bei einer weiteren Variante von Achtsamkeit, die das Reflexionsvermögen betrifft, spielt die Bewertung aber doch eine Rolle und macht es möglich, sich besser kennen zu lernen und gegebenenfalls zu verändern. Achtsamkeit ist ein alter Begriff. Begriffe, die uns dazu einfallen, sind z.B. „achten“, also wertschätzen und auch „Achtung“, als orsicht. Vielen Lehrern ist nicht bewusst, dass der Selbst-Achtung große Bedeutung zukommt. Wer sich eigene Fehler verzeihen kann, dem gelingt das auch eher im Umgang mit den Schülern. Wer sich Zeiten des Innehaltens
einräumt, kann lernen, ruhiger zu werden und zu reflektieren und kommt möglicherweise dazu, die eigenen Prioritäten anders zu gewichten.
Peter Schipek:
Sie sprechen von Beziehungslernen und einer achtsamen Beziehungskultur. Woran denken Sie da?
Rita E. Kaufmann:
Ich spreche von Beziehungslernen, um zu betonen, dass es hier bei vielen Menschen einen Nachholbedarf gibt: sowohl in Schulen als auch in Familien. In meiner Jugendzeit hatte der Dialog zwischen einem Erwachsenen und einem Kind nur geringe Bedeutung. Es ging eher um Anpassung und Gehorsam. Deshalb reagiere ich auf die Forderung, von Kindern mehr Disziplin zu verlangen, eher allergisch, weil ich denke, dass wir in der Schule vor allem ein Motivationsproblem haben. Statt von Disziplin würde ich von der erforderlichen Selbstkontrolle und Konzentration des Schülers sprechen, um lernen zu können. Das braucht viel Übung. Noch mehr stört mich der Begriff „verlangen“. Kinder zum Lernen zu ermutigen führt eher in die gewünschte Richtung. Zur Beziehungskultur folgendes: Heute sind wir in der glücklichen Situation, dass viele Lehrer und Eltern Kinder ernst nehmen. Leider gibt es aber noch immer Erwachsene, die sich für das, was (ihre) Kinder bewegt, wenig interessieren. Das kann fatale Folgen haben. Kinder wollen gesehen und anerkannt werden. Dann können sie eher gedeihen und lernen gerne. Und es gibt Erwachsene, die Kindern Verantwortung übertragen, um sich selbst zu entlasten. Das berfordert viele Kinder, die entsprechend ihrem Alter Empathie, Wohlwollen, kompetente Begleitung, Beratung, Förderung brauchen, um sich gut zu entwickeln. Ich bin davon überzeugt, dass eine achtsame Beziehungskultur voraussetzt, dass zunächst einmal die Erwachsenen lernen, achtsam und empathisch zu sein, zu spüren, was sie selbst in einer bestimmten Situation brauchen, aber auch zu spüren, was (ihre) Kinder brauchen, ihnen zuzuhören und von ihnen lernen zu wollen, sie aber auch in ihren Lernbemühungen und ihrem Leistungswillen zu unterstützen. Dann können sie ihre Persönlichkeit entwickeln und verantwortlich sein. Und Kinder/Jugendliche in Familie und Schule lernen ihrerseits, achtsam zu sein und Verantwortung zu übernehmen.
Peter Schipek:
Sie betonen, dass Offenheit und Fehlerfreundlichkeit Kennzeichen des achtsamen Lehrers sind
und was zu einer guten Lernatmosphäre beiträgt. Können Sie das näher erläutern?
Rita E. Kaufmann:
Offen ist meines Erachtens ein Lehrer, der bereit ist, aus den eigenen Fehlern zu lernen und Teile seines Verhaltens zu ändern. Dann kann er neue Erfahrungen machen. Auch wenn es an den Schulen mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit wird – oder werden sollte – die Lehrer in internen Fortbildungsveranstaltungen mit den neuesten Forschungsergebnissen von Psychologen und Neurowissenschaftlern vertraut zu machen, bleibt es Aufgabe des Lehrers, die gewonnenen psychosozialen Erkenntnisse im Umgang mit den Schülern zu nutzen. Offenheit setzt ferner voraus, dass der Lehrer sich an den Fähigkeiten und nicht an den Defiziten seiner Schüler orientiert, dass er also fehlerfreundlich ist und dass er weiß, dass der Lehrer-Schüler-Beziehung im Lernprozess große Bedeutung zukommt.
Zu Ihrer Frage, warum es dem achtsamen Lehrer gelingt, eine gute Lernatmosphäre zu schaffen, folgendes: Ich denke es hängt damit zusammen, dass er für das eigene Sein und die eigene Beziehungsgestaltung sensibilisiert ist. Das versetzt ihn in die Lage, eine auf Akzeptanz und Vertrauen basierende Atmosphäre im Unterricht zu schaffen und seinen Schülern die Haltung der Achtsamkeit zu vermitteln. Wenn verschiedene Arten von Achtsamkeits-, Stille und Bewegungsübungen zum festen Bestandteil des Unterrichts einer Schulgemeinschaft
werden, weil ein Konsens darüber besteht, dass sich Schüler und Lehrer durch den dabei bewusst erzeugten Wechsel zwischen An- und Entspannung in der nächsten Unterrichtsphase wieder besser konzentrieren können, so kann das erheblich zum Lernerfolg von Schülern und zu größerer Gelassenheit bei Lehrern beitragen. Mehr noch. Ihnen kann bewusst werden, das Lernen und Unterricht etwas ist, das häufig Anstrengungen erfordert aber auch Spaß machen kann.
Das ganze Interview ist hier nachzulesen.
Zur Person: Rita E. Kaufmann lebt mit ihrem Mann in Köln und hat zwei erwachsene Kinder. Als Lehrerin hat sie Englisch, Deutsch und Kunst in der Sekundarstufe 1 unterrichtet und im Anschluss daran Philosophie und Psychologie studiert. Sie hält Vorträge zur Thematik „Selbstbestimmung und Beziehungslernen.
Achtsamkeit in Schule und Familie“ und plant Workshops für schulinterne Weiterbildungen.