Heilsame Berührung in der Pflege

Lesezeit 7 Minuten –

Verbesserung der Lebensqualität für Menschen mit Demenz. Ein schwäbisches Pflegeheim ist Preisträger des Bayerischen Demenzpreises 2024. In ihrer Rede für die sechs ausgezeichneten Projekte sagte die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach: „Diese Projekte tragen dazu bei, das Leben der Betroffenen sowie ihrer An- und Zugehörigen weiter zu verbessern. Sie haben eine Vorbildfunktion für ganz Bayern und können eine Inspiration für die Umsetzung ähnlicher Projekte an anderen Orten sein.“

„Mit dem dritten Preis wurde das Caritas Pflegezentrum St. Hildegard in Pöttmes für das Projekt „Reduktion von Psychopharmaka durch Alternativen in der Pflege“ ausgezeichnet. In einem individuellen Tagesrhythmus der Bewohnerinnen und Bewohner eingebettet, werden von geschulten Mitarbeitenden ätherische Öle im Rahmen der Aromapflege angewendet und pflegerische Berührungen gezielt eingesetzt. Diese nicht-medikamentösen Interventionen ermöglichen es, den Einsatz von oftmals nebenwirkungsreichen Psychopharmaka auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren, was einen positiven Effekt auf die Lebensqualität der Betroffenen hat.“

Heilsame Berührungen zur Reduktion von Psychopharmaka in der Altenpflege

In Deutschland leben bereits fast zwei Millionen Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Diese Zahl steigt kontinuierlich. Viele dieser Personen leben in Pflegeeinrichtungen. Da Demenz oft mit einer starken Unruhe einhergeht, bekommen die Betroffenen in Pflegeeinrichtungen häufig Psychopharmaka zur Beruhigung. Durchschnittlich geschieht dies bundesweit sogar in ca. 80 % der Fälle. Da diese Medikamente aber starke Nebenwirkungen haben, hat eine wissenschaftliche Studie klären wollen, inwieweit es Alternativen dazu gibt. Das Pflegezentrum St. Hildegard nahm an dieser Studie teil und konnte nachweisen, dass Psychopharmaka in ihrer Einrichtung in lediglich 23 % der Fälle verabreicht werden mussten.

Was ist die Heilsame Berührung?

„Heilsame Berührung“ ist eine energetische Behandlungsmethode, die den Effekt einer wohltuenden Berührung gezielt nutzt. Durch das Handauflegen werden nicht nur Stress, Schmerzen und Ängste wirksam reduziert, sondern auch die Vitalität und körpereigenen Selbstheilungskräfte gestärkt. Als perfekte Ergänzung zur Schulmedizin wird diese Therapieform nicht nur privat, sondern auch in zahlreichen Pflegeeinrichtungen, Hospizen und körpertherapeutischen Praxen eingesetzt. Entwickelt wurde diese Methode von Vera Bartholomay auf der Grundlage von Therapeutic Touch, die bereits weltweit in der Kranken- und Altenpflege angewandt wird.

Ein Pflegezentrum geht neue Wege

Andrea Neukäufer leitet das Pflegeheim „St. Hildegard“ seit über 30 Jahren. Sie ist auch ausgebildete Aromatherapeutin und hat schon vor Jahrzehnten die Aromatherapie in die Pflege integriert. Es war ihr immer ein Anliegen, den Menschen in seiner Ganzheit zu erfassen. Aus der Onkologie war schon bekannt, dass Berührung dabei eine ganz entscheidende Rolle spielt. Sie hat verschiedene Ausbildungen in Berührungsmethoden gemacht, aber es fehlte etwas, was leicht und unkompliziert in den Pflegealltag integriert werden konnte. Über eine Fortbildung in „Heilsame Berührung“ kam das fehlende Puzzlestückchen hinzu.

Andrea Neukäufer: „Ein alter Mensch, der zu uns in die Einrichtung kommt, hat in der Regel seinen Lebenspartner verloren. Die Kinder wohnen oft weit weg. Und dann fehlt die Berührung natürlich ganz stark. Mir war aber schnell klar, dass wir diese Berührungselemente ganz natürlich in den Alltag einbauen müssen. Beginnend in der Grundpflege, in der täglichen Waschung, in der Einreibung und in der Beschäftigung. Bei uns ist es ein Teil des Alltags, ganz oft berührt zu werden. Und darum war mir auch so wichtig, dass ganz viele Mitarbeiter in der Berührung geschult werden. Und dass wir diese Berührungen mit unseren Ölen kombinieren.

Natürlich beachten wir, wo und wie wir berühren. Das ist stark vom Grad der Demenz abhängig, was dieser Mensch zulassen kann.

Aber auch für uns im Team ist es wichtig, dass man sich mal in den Arm nimmt und spürt, wie gut es tut. Denn diese gute Erfahrung geben wir dann weiter.

Es wurden schon 70 bis 80% der Beschäftigten in „Heilsame Berührung“ ausgebildet – nicht nur im Bereich Pflege und Betreuung, sondern auch in Verwaltung und Hauswirtschaft. Denn dieses Bewusstsein soll für alle präsent sein.

Es gibt verschiedene Bausteine dieser Anwendung. Meist wird sie in Form von Teilberührungen in die tägliche Pflege integriert und geschieht ganz „nebenbei“. Manchmal ist jemand aber besonders unruhig und bekommt eine zusätzliche Zuwendung, gelegentlich auch verbunden mit einer leichten Massage.

Auch wenn jemand sich im Sterbeprozess befindet, versuchen wir in der palliativen Pflege mit Berührung zu unterstützen.

Die Angehörigen sind natürlich informiert über unsere Art zu arbeiten und sie findet fast immer großen Zuspruch. Manchmal kann man ihnen auch zeigen, was sie selbst mit leichten Berührungen für ihre Angehörigen tun können.“

Jede Anwendung ist eine Zuwendung

Foto: Christina Neukäufer Produktdesign

Andrea Neukäufer: „An der „Heilsamen Berührung“ gefällt mir besonders, dass es so einfach und natürlich ist. Denn es ist eine Fähigkeit, zu der wir alle einen Zugang haben, auch wenn wir es oft verlernt haben. Es ist eben nichts Magisches oder Esoterisches, sondern eher ein Handwerkszeug – oder nennen wir es vielleicht sogar ein Hausmittel. Auch in der christlichen Tradition kennen wir das Handauflegen.

Das Wunderbare an diesen Berührungen ist, dass das „System“ eines Menschen wieder in Ordnung kommt. Zumindest nehme ich es selbst so wahr, dass man sich wie neu zusammengesetzt fühlt oder wieder ganz zusammengesetzt.

Im Heim erlebe ich so oft, dass schon kleine Berührungen schnell beruhigen können. Aktuell haben wir eine neue Bewohnerin mit beginnender Demenz. Sie hat anfänglich öfter den Impuls gehabt, weglaufen zu wollen. Seitdem sie regelmäßig berührt und umarmt wird, hat sich diese Unruhe gelegt. Ich glaube, sie spürt dadurch mehr Halt.“

Berührung ist Begegnung

Andrea Neukäufer: „Ich bin hier, ich berühre, ich streichele und es braucht oft gar kein Wort. Gerade ein schwer kranker Mensch kann ja oft nicht mehr sprechen. Aber er merkt, dass man da ist. Mich berührt die Begegnung in der Berührung. Wenn ich Bewohner berühre, bekomme ich von dem Pflegebedürftigen, auch wenn er oder sie noch so dement ist, Berührung zurück.“

Kein Personalmangel

Alle sprechen vom Pflegenotstand. In dieser Einrichtung kennt man aber keinen Personalmangel.

Andrea Neukäufer: „Ich glaube, das liegt auch an der Art der Arbeit. Viele, die in der Pflege arbeiten, möchten so arbeiten.“

Die Pflegekräfte berichten, dass die Arbeit mit diesem neuen Konzept mehr Freude macht und für sie sinnvoller wird. Der Umgang mit den Pflegebedürftigen wird einfacher, denn so manche Störungen wie Unruhe oder Ängste können sie selbst leicht beheben, ohne gleich Medikamente geben zu müssen. Auch bei Schlafstörungen kann die „Heilsame Berührung“ hilfreich sein.

Die Pflegekräfte können sich auch gegenseitig mit „Heilsamen Berührungen“ stärken, wenn sie erschöpft sind oder sich nicht ganz gesund fühlen.

Alle Mitarbeitende bekommen das Angebot einer mehrtägigen Einführung durch die „Heilsame Berührung“-Lehrerin Christine Pehl und später auch einzelne Tage mit Vertiefungsthemen. Finanziert werden diese Fortbildungen aus den hauseigenen Mitteln, von einem Förderkreis und Spenden der Angehörigen.

Eine Kultur der Berührung als Zukunftsvision

Andrea Neukäufer: „In unserer Kultur haben wir ein Stück weit verlernt, uns zu berühren. Damit Berührung auch in der Pflege als etwas Natürliches und Schönes integriert werden kann, müsste sie eigentlich Teil der Ausbildung sein. Nur so können Vorurteile und Ängste abgebaut werden. Es muss auch ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass dies nichts mit Esoterik zu tun hat, sondern eine Fähigkeit ist, die wir alle zur Verfügung haben.

So manche Kollegen in anderen Einrichtungen lehnen solche Konzepte sofort ab mit dem Argument, dass es in den alltäglichen Abläufen nicht machbar wäre. Es wäre nicht genug Zeit da. Dabei hat es mit Zeit nichts zu tun, denn es findet ja während der täglichen Pflegeanwendungen statt. Und wenn jemand beispielsweise sehr unruhig ist oder gar wegläuft, bindet die Suche ja auch enorme Zeitressourcen.

Wir haben natürlich unsere Rahmenbedingungen, aber in diesem Rahmen gibt es viele Räume, die ich einfach füllen kann. Und das machen wir heute eben mit diesen Alternativen.

Allerdings braucht es schon ein Konzept, damit diese Kultur entstehen kann. Es braucht einen roten Faden, der sich durch alles durchzieht. Und eine Leitung muss voll dahinterstehen und dafür sorgen, dass wesentliche Teile des Konzepts immer wieder genügend Raum bekommen.“

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Vera Bartholomay
Vera Bartholomay

Vera Bartholomay ist Autorin, Seminarleiterin und Therapeutin mit Themen wie persönliche Entwicklung und ganzheitliche Körperarbeit. Sie unterrichtet an mehreren Standorten in Deutschland und bildet auch Lehrerinnen aus. Ihre Bücher: „Heilsame Berührung von Körper, Herz und Seele“, „Herzen berühren – Sehnsucht nach tiefen Begegnungen“ und „Projekt Sehnsucht. Ein Mutmachbuch für alle, die von der Selbstständigkeit träumen“. Sie hat einen Podcast „Herzfeuer“ über Themen, für die wir brennen. https://www.vera-bartholomay.com

10 Kommentare

  1. Was für einen mutmachender Bericht! Danke dafür. Solch ein Heim hätte ich mir für meine Mutter gewünscht…
    Es berührt mich sehr, dass soviel Berührung in den Alltag eingebaut werden kann, selbst unter den „Normal“-Bedingungen, die ja alles andere als gut sind. Danke an Vera und die engagierte Leitung des Pflegeheims. Mögen solche Ansätze wachsen.

    • Liebe Dorothee, auch ich bin sehr angetan von diesen mutmachenden Entwicklungen. Mögen sich viele andere Einrichtungen davon inspiriert sehen.
      Herzlichst, Vera

  2. Liebe Vera, hab vielen lieben Dank – Ich möchte sehr gerne etwas Hoffnungsvolles & Mutmachendes mit Euch teilen, als Sterbeamme. In einem Hospiz in Waren an der Müritz sind ca. die Hälfte der wundervollen Menschen in Handauflegen ausgebildet. Im Sterbeprozess, im Prozess der Trauer auch für Angehörige & Zugehörige legen sie die Hände auf. Ich bin sehr dankbar, ein Teil dieser Wandlung zu sein, als Erinnerin wurde ich eingeladen & durfte einige Menschen ausbilden & nun haben sie in Ihrer Gemeinschaft eine Lehrerin in Handauflegen und es entwickelt sich von Selbst …
    Ich freue mich auf sehr auf eine wundervolle & berührende Zeit – HerzensDank Simone im SonnenLicht aus dem WendLand 🙂

  3. Diese wunderbare Geschichte mag viele Nachahmer finden. Es ist für mich immer eine große Freude in St. Hildegard zu sein und die Menschen in heilsamer Berührung auszubilden. Wer Interesse hat kann sich gerne bei mir melden: Christine Pehl, oder 0172 821 8892. Fortbildungen in heilsamer Berührung können intern und extern stattfinden, z.B. im Bildungswerk Irsee: Therapeutische Berührung – Basis- und Praxisseminar – Bildungswerk Irsee

  4. Welch schöner, zu Herzen gehender Bericht über einen außergewöhnlichen Weg in der Pflege! Er zeigt, wie die „einfachen“ zwischenmenschlichen Dinge und Handlungen, abseits von Apparate- und Pillen-Medizin, oft die allerhilfreichsten sind – man muss sie nur wollen und dann beherzt (manchmal auch gegen Widerstände) tun. Es ist, wie schon der Philosoph Martin Buber sagte: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ – und in diesem Falle „Berührung“, die eine sehr innige Form der Begegnung ist.
    Ich wünsche weiterhin viel Erfolg mit dieser so wichtigen und schönen Form der Zuwendung in Ihrer Einrichtung. Und meiner Bekannten Christine Pehl wünsche ich, dass sie noch viele Menschen in dieser heilsamen Methode ausbilden kann.

  5. Was für ein mutmachender Bericht. Seit fünf Jahren lebt mein Vater in einer Senioreneinrichtung im Südwesten Berlins, davon über zwei Jahre im Pflegebereich. Mit fortgeschrittener Demenz und inzwischen in der höchsten Pflegestufe erlebe ich bei meinen Besuchen immer wieder, wie positiv er trotz seiner Einschränkungen auf Berührungen, Händehalten, eine sanfte Rasur, das Eincremen des Gesichtes reagiert. Aber ich bin eben nur dreimal in der Woche bei ihm. Wie sehr wünschte ich, dass das Betreuungskonzept von St. Hildegard auch in seiner Einrichtung Alltag wäre – und dass Christine Pehl dort das Personal schulen und anleiten würde. Ich hoffe, diese Methode von Vera Batholomay und die Änderungsbereitschaft und Offenheit von St. Hildegard macht Schule und findet weiter Verbreitung in der Altenbetreuung.

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